Kommentar

Viele Menschen, nicht selten besonders solche mit einer nationalistischen oder xenophoben Lebenseinstellung, weisen einen mir ähnlichen Lebenslauf, mit kulturell gemischten und oft unwillkommenen Herkünften, auf.

Für manche Personen aber ist es eine unerträgliche Vorstellung, nirgendwo so richtig dazu zu gehören, und sie entscheiden sich dann unter kollektivem Anpassungsdruck für die Glaubenssätze der Mehrheitsgesellschaft, in dem sie ihr erstrebtes Wir-Gefühl restriktiv unter Ausschluss der „anderen“ konstruieren, und gewissermaßen die abgelehnten und abgespaltenen eigenen Persönlichkeitsanteile im „anderen“ verfolgen.

Fortgesetzte Ambivalenz oder, psychoanalytisch gesprochen, das dritte Objekt im Erleben, halten zu können, ist eine Kulturleistung, die nichts mit formaler Bildung oder Intelligenz zu tun hat, sondern ausschließlich eine Frage des psychischen Reifegrades, oder, einfacher ausgedrückt, eine Frage von Aufrichtigkeit und Herzensbildung.

In Tirol, einem Gebiet im Herzen Europas, wo Menschen aus den verschiedensten Herkunftsgebieten seit dem Ende der Eiszeit diesseits und jenseits des Alpenhauptkamms durchgezogen waren, bevor sich ein kleiner Teil davon dauerhaft niederließ, herrscht seit der Gegenreformation im 17.Jahrhundert ein besonders starker Konformitätszwang.

Es war nach dem Untergang des römischen Reiches und der Epoche der großen Völkerwanderung bis hin zum Ende des Mittelalters erst der Aufklärung des 18.Jahrhunderts vorbehalten, Menschen beiderlei Geschlechts und ethnischer Herkunft in ihrer Verschiedenheit gelten zu lassen, ja verschiedene Sprachen, Religionen und Lebensweisen sogar als eine gesellschaftliche Bereicherung zu betrachten, anstatt als eine Bedrohung der eigenen patriachal definierten Stammesidentität.

Aber die Josefinische Aufklärung, die Juden, Jüdinnen und ProtestantInnen in der gesamten Habsburgermonarchie die lang ersehnte Freiheit brachte, ist nicht in alle Gebiete unseres Landes vorgedrungen, trotz oder eher wegen des seit dem 19.Jahrhundert aufblühenden Tourismus: Es musste den zahlenden ausländischen Gästen eine unberührte, fromm-lustige Märchenwelt voller Naturliebe, Sangesfreude und Gottesfurcht vorgespielt werden, trotz notorischer Gewalt in den Familien, brutaler Ausbeutung von Mägden und Knechten und habituellen sexuellen Fehlverhaltens besitzender Patriarchen gegenüber Frauen und Kindern.

Selbstreflexion, geschweige denn ein Schuldbekenntnis für die zahlreichen wissenschaftsfeindlichen, faschistischen und antisemitischen Untaten der Vergangenheit sind touristisch nicht zu vermarkten, auch aufgrund des mangelnden Interesses vieler ausländischer BesucherInnen, die oft ihre eigene idealisierende Vorstellung des gesunden Landlebens in den Urlaub mitbringen, und fallen daher Verleugnung, Vertuschung und kollektivem Vergessen zum Opfer.

Als ich mich 2012 entschloss, an den Achensee zu ziehen, um hier zu leben und zu arbeiten, war ich mir der Diskrepanz zwischen der wunderschönen Natur und den freundlichen Bewohnern einerseits und der oftmals recht düsteren Aspekte ländlicher Existenzformen andererseits wohl bewusst: waren doch viele Tiroler Verwandte meines Vaters vor roher Gewalt, Ignoranz und Alkoholismus einst bis nach New York und San Francisco geflohen.

Dennoch gelang es mir, an wichtige Ereignisse in der Geschichte der Psychoanalyse seit dem Sommer 1900 anzuschließen: Sigmund Freud, der 1899 in Wien sein epochales Werk über die Traumdeutung veröffentlicht hatte, traf sich einige Male an verschiedenen Orten des Achensees mit seinem Kollegen Wilhelm Fließ aus Berlin, um über die psychische Bisexualität des Menschen zu diskutieren und zu streiten.

100 Jahre später, im Sommer 2000, fand ein internationaler Kongress zur Geschichte der Psychoanalyse in Pertisau statt, im Gedenken an diese Fragestellungen, die unter dem Begriff „Die Achensee-Frage“ in der Psychoanalyse bekannt sind. Gemeint ist damit die Frage der psychischen und auch biologischen Aspekte menschlicher Androgynität.

Mir ist es eine stets wohltuende Erfahrung, von meiner Terrasse aus quer über den See blicken zu können, mich gedanklich mit dem verehrten Altmeister zu verbinden und auf bescheidene Weise etwas zur Weiterentwicklung von Vernunft, Lebensfreude und Selbstreflexion, wie sie für die Psychoanalyse typisch sind, bei meinen PatientInnen und KlientInnen beitragen zu dürfen.